"Junge Menschen im Dauerkrisenmodus brauchen maßgeschneiderte psychologische Angebote"

29.11.2022 CJD BW « zur Übersicht

Jede Generation hat Themen, die sie beschäftigen. Doch was passiert mit einer Jugend, die im Dauerkrisenmodus aufwächst und dabei im medialen Dauerfeuer steht? Der Deutsche Ethikrat konstatiert heute, dass die psychischen Belastungen der jungen Generation im Rahmen der Pandemie nicht ausreichend in den Blick genommen worden seien. Unterstützende Angebote für junge Menschen müssten dringend ausgebaut werden. Was also ist wichtig, wenn wir mit Kindern und Jugendlichen über die Zukunft sprechen und was ist zu tun, um in einer unübersichtlichen Welt die Zuversicht zu bewahren? Prof. Dr. Ahmed A. Karim ist Psychotherapeut beim Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands (CJD) in Kirchheim/Teck und Forschungsgruppenleiter an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen. Er sprach mit uns über Gesundheitspsychologie in Krisenzeiten.

Herr Professor Karim, Klima, Corona, Krieg – es scheint, als sei Krise die neue Normalität geworden. Noch vor drei Jahren konnte sich das kein Mensch vorstellen. Wenn Sie einmal eine Bilanz ziehen – wie geht es Kindern und Jugendlichen nach dieser langen Durststrecke und in weiterhin unsicheren Zeiten?

Prof. Karim: In der Tat hat die Corona-Pandemie zu einer Zunahme von psychischen und psychosomatischen Störungen geführt. Die Einschränkungen des Lockdowns gingen mit einer Zunahme von sozialer Isolation, Depression, und Gewichtszunahme wegen Essen aus Langeweile sowie einer stärkeren Abhängigkeit von Computerspielen und sozialen Medien einher, die als Flucht vor der Realität dienten. Durch den Ukraine-Krieg sind nicht nur die Gas- und Strompreise gestiegen, es gab auch eine "gelebte Entwertung" des Geldes, da auch viele Lebensmittel wesentlich teurer geworden sind. Da viele junge Leute ohnehin wenig Geld haben, müssen sie nun noch sparsamer sein. Diese Erhöhung der Frustration kann sich wiederum negativ auf Depressionen auswirken.

Welche Aspekte bereiten Ihnen bei der Arbeit mit Jugendlichen gerade am meisten Sorge?

Jeder Mensch tickt anders, deshalb sind auch die persönlichen Sorgen je nach Individuum sehr vielfältig. Soziale Einsamkeit und Unsicherheit, Liebeskummer und die Sorge, keinen Partner zu haben oder zu finden, sind häufige Themen. Der Umgang mit Süchten kann den Alltag ebenso stark beeinträchtigen. Dazu gehören nicht nur legale Drogen wie Alkohol und Nikotin, sondern auch illegale Substanzen sowie Spielsucht und Handysucht. Darüber hinaus leiden viele junge Menschen unter Mobbing-Erfahrungen oder sogar traumatischen Erfahrungen aus der Vergangenheit, die sie im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung auch in der Gegenwart beeinträchtigen.

Spielt dabei auch eine Rolle, dass gerade die jüngeren Generationen viel Zeit im digitalen Raum verbringen?

Ja, wir alle leben zunehmend in einer virtuellen Welt. Junge Menschen verbringen die meiste Zeit des Tages sowohl beruflich als auch privat vor einem Bildschirm, sei es der Fernseher, der Computer oder das Handy. Viele verlernen hierbei leider die Fähigkeit, Gespräche im realen Leben erfüllend zu führen. Die Folge davon: Soziale Ängste nehmen zu, man "flüchtet" mehr und mehr vor der Realität in den virtuellen Raum. Bei der Arbeit mit Jugendlichen ist deshalb wichtig, bestimmte Ressourcen wieder in den Vordergrund zu stellen: Wir trainieren zum Beispiel soziale Kompetenz, machen Achtsamkeitstraining und üben den Umgang mit den eigenen Gefühlen. Langfristige Ziele lassen sich nur erreichen, wenn man dem kurzfristigen Dopamin-Kick durch Gaming oder YouTube-Videos auch widerstehen kann. Das möchten wir gerne vermitteln.

Reagieren Mädchen und Jungen unterschiedlich auf große Krisen?

Junge Männer neigen eher dazu, Frustration und Wut nach außen zu richten. Sie treten dann zum Beispiel als "Klassenclown" auf oder haben Freude daran, andere zu piesacken. Junge Frauen dagegen richten diese Gefühle eher nach innen. Das kann sich etwa im so genannten Frustessen, in zunehmendem Weinen oder – im schlimmsten Fall – auch in selbstverletzendem Verhalten zeigen. Das sind Wege, um die innere Anspannung zu reduzieren. Diese Muster findet man sicherlich nicht bei allen, es handelt sich lediglich um eine Tendenz, die auch aus epidemiologischen Studien bekannt ist.

Resignation, Verdrängung oder unerschütterlicher Optimismus – welche Haltung überwiegt und gibt es aus psychologischer Sicht eine "richtige"?

Verdrängung ist sicherlich die häufigste Reaktion. Ständig über Probleme zu grübeln oder – als anderes Extrem – grenzenloser Optimismus wären jedoch auch nicht ratsam. Ein guter Plan wäre, die Themen, die einen belasten, einfach mal aufzuschreiben und im nächsten Schritt nach Lösungsstrategien zu suchen – und zwar rational, also mit möglichst kühlem Kopf und weniger gefühlsbasiert. Diese Lösungsstrategien festzulegen ist wichtig, damit aus den Ideen dann auch wirklich Taten werden. Wichtig ist auch, zwei Arten von Problemen zu unterscheiden: Jene, an denen ich nichts ändern kann und jene, auf die ich tatsächlich Einfluss habe. Mit der ersten Kategorie sollte man lieber weniger Zeit vergeuden und sich stattdessen auf die zweite Kategorie fokussieren.

Bei Ihrer Arbeit haben Sie viel mit jungen Menschen zu tun, die schon vor Corona durch ihre persönliche Geschichte belastet waren. Was bedeutet der Dauer-Krisenzustand für vorbelastete Jugendliche?

Vorbelastete und sozial benachteiligte Jugendliche leiden natürlich mehr in Krisensituationen, da sie psychologisch gesehen einen weniger starken "Schutzschild" zur Verfügung haben. Deshalb bieten wir im CJD nicht nur verschiedene Reha-Ausbildungen an, sondern auch einen psychologischen und sozialen Dienst, um wieder Struktur in den Alltag der Jugendlichen zu bekommen. Dabei vermitteln wir ihnen wichtige Ressourcen wie Methoden zum effektiven Lernen, Emotionsregulationstraining, Entspannungstechniken, und wir klären über Gefahren von Drogen und den kurzfristigen Dopamin-Kick durch Computerspiele und Handysucht auf.

Ihre Einrichtung ist Teil des CJD (Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands), das auf Basis des christlichen Menschenbilds arbeitet. Spielen Religion und Glaube eigentlich noch eine Rolle bei jungen Menschen, kann ihnen das Halt geben?

Psychotherapie wird grundsätzlich konfessionsübergreifend vermittelt. Religiosität ist dabei nur dann ein Gesprächsthema, wenn es für den Patienten wichtig ist. Religion spielt bei vielen jungen Menschen keine oder nur eine untergeordnete Rolle, wobei bestimmte Lebensereignisse wie der Tod eines geliebten Menschen das Thema der eigenen Sterblichkeit sowie das Bedürfnis nach einer "Seele" wieder ins Bewusstsein rufen können. Es gibt aber auch junge Menschen, die sich regelmäßig mit religiösen Themen auseinandersetzen und denen Glaube und Gebete einen deutlichen Halt geben. Darüber hinaus gibt es im CJD religionspädagogische Angebote: Sie können jungen Menschen helfen, Sinn und Orientierung sowie psychische Schutzfaktoren zu finden. Welchen Effekt die Religion auf das eigene psychische Wohlbefinden sowie Interaktionen mit anderen hat, hängt von der eigenen Persönlichkeit ab: Menschen, die eher soziale Persönlichkeiten sind, nehmen auch ihre Religion eher als sozialen Faktor wahr und leben sie aus, während andere das eben nicht tun. Das ist auch unabhängig davon, welcher Religion sie angehören. Dieses Phänomen ist in der Psychologie als "confirmation bias" (Bestätigungsverzerrung) bekannt: Der Effekt bezeichnet unsere Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen und Ansichten bestätigen.

Wie können wir gemeinsam dazu beitragen, dass junge Menschen wieder zuversichtlicher in die Zukunft schauen und ihr Leben in die eigene Hand nehmen können?

Es ist zum einen wichtig, dass junge Menschen in Schule und Ausbildung weder unter- noch überfordert werden. Unterforderung, zum Beispiel in Form von Langeweile und Leerlauf, kann Frustration, Depression und ein Gefühl von mangelnder Selbstwirksamkeit begünstigen. Im Unterricht sollte die Faszination für ein Fach möglichst praktisch vermittelt werden. Aristoteles sagte treffend: "Unterrichten ist nicht ein Fass zu füllen, sondern eine Flamme zu entzünden." Dazu gehört auch ein respektvoller Umgang zwischen Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern. Außerdem sind Kampagnen zur Aufklärung über die Gefahren von Drogen- und Medienkonsum notwendig. Darüber hinaus kann ich mich den Empfehlungen des Deutschen Ethikrats nur anschließen: Wir brauchen niedrigschwellige und flächendeckende Unterstützungsangebote für alle, die Bedarf haben. Versorgungsdefizite in diesem Bereich müssen schnellstmöglich abgebaut werden. Zum Schutz der jüngeren Generationen gehört auch, sie in jeder Hinsicht ernst zu nehmen und an der Diskussion teilhaben zu lassen. Die größte Herausforderung wird es sein, für junge Menschen im Dauerkrisenmodus maßgeschneiderte psychologische Angebote zu entwickeln.


Am Mittwoch, den 30.11.2022 von 10.30 bis 11.30 Uhr hält Prof. Dr. Ahmed A. Karim einen Vortrag zum Thema "Maßgeschneiderte Psychotherapie in der beruflichen Rehabilitation" beim Psychotherapie Fachtag 2022 im CJD Kirchheim/Teck, Alte Plochinger Steige 158, 73230 Kirchheim unter Teck.